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Sie forscht an einer Philosophie für die Welt

Die Philosophin und Erziehungswissenschaftlerin Lerato Posholi – Mitglied der Jungen Akademie – will aussereuropäisches Denken stärker in den globalen Diskurs holen. Im Porträt spricht sie über den Platz afrikanischer Ideen, ihren eigenen Weg und die Frage, was alles philosophisch ist.

Autorin: Susanne Wenger

2010 begann Lerato Posholi ihr Studium an der Universität Witwatersrand in Johannesburg. Im selben Jahr fand in Südafrika das grösste Sportereignis der Welt statt: «Südafrika war Gastgeber der Fussball-Weltmeisterschaft», erzählt die 34-Jährige im Videocall aus Norddeutschland, wo sie derzeit arbeitet. Es war die erste WM auf afrikanischem Boden. Das Zusammentreffen wirkt im Rückblick symbolisch. Aus ihren damaligen Studienfächern Philosophie und Erziehungswissenschaft entwickelte sie ein globales Thema: Wie könnte eine Philosophie aussehen, die auch das Denken ausserhalb Europas einbezieht?

Mit Sorgfalt und Leichtigkeit spricht Posholi über ihren komplexen Gegenstand. Über Unschärfen in Fragen geht sie freundlich hinweg. Erziehungswissenschaft wählte sie damals, weil die Eltern ihr früh den Wert von Bildung vermittelten. «In Südafrika ist Bildung der Schlüssel zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg», erklärt sie. Philosophie belegte sie aus Neugier. Das Fach war ihr fremd, doch sie mochte, «wie Philosophie Dinge hinterfragt, die wir für selbstverständlich halten». Das Curriculum an der «Wits», wie die Universität genannt wird, war stark westlich geprägt. «Wir beschäftigten uns fast ausschliesslich mit den grossen europäischen Denkern – alle Männer – von Platon bis Kant», erinnert sie sich.

Die Erste in der Familie

Zwei Erlebnisse prägten ihr Forschungsinteresse. Das eine war die Vorlesung von Charles Mills, einem Philosophen aus Jamaika, über Rassismus in der Philosophie. «Das kam mir zuerst seltsam vor – wie zwei getrennte Kategorien», sagt sie. Das andere war die Studentenbewegung, die ab 2015 Südafrikas Hochschulen erfasste. Unter dem Slogan «Rhodes must fall» forderten Studierende die Entfernung einer Statue des Kolonialisten Cecil Rhodes vom Campus in Kapstadt. Doch es ging um mehr als Denkmal, betont Posholi. Ziel war, die Hochschulen von den Ungleichheiten zu befreien, die Kolonialismus und Apartheid hinterlassen hatten. Die Proteste richteten sich auch gegen hohe Studiengebühren.

Posholi, die damals ihren Master machte, unterstützte die Forderungen. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie und war die Erste in der Familie, die studierte – dank eines Stipendiums. «Der Wechsel an die Universität war die bisher grösste Veränderung in meinem Leben», sagt sie. Trotz der politischen Umbrüche seit dem Ende der Apartheid in den 1990er-Jahren erlebte sie Südafrika weiterhin als stark segregiert, räumlich und sozial. Aufgewachsen in einer überwiegend Schwarzen Community, traf sie erst an der «Wits» vermehrt auf Menschen aus anderen gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen.

Denken entkolonialisieren

Immer stärker beschäftigte sie die Idee, dass auch der Geist entkolonialisiert werden müsse: die Ideengeschichte, die Wissensbestände, die Lehrinhalte. Sie las Werke von Autorinnen und Autoren wie Kwasi Wiredu, einem Philosophen aus Ghana, die sich mit diesen Themen auseinandersetzten. In ihrer Dissertation untersuchte sie selbst die Verbindungen zwischen Wissen, Lehrplänen und Macht. Besonders interessiert sie die epistemologische Dimension, also die Frage, wie gültiges Wissen ensteht. «Die koloniale Eroberung Afrikas führte zur Vorherrschaft der westlichen Philosophie, die als einzig gültig galt», sagt sie. Die Kolonialmächte setzten ihre Bildungsinhalte, -systeme und -sprachen durch. Mit weitreichenden Folgen für die Philosophie, deren wichtigstes Werkzeug die Sprache ist. Afrikanische Denktraditionen wurden abgewertet, ihre Erforschung und Weiterentwicklung vernachlässigt.

Potenzial afrikanischer Philosophien

Seit einigen Jahren wird vieles rekonstruiert. Posholi trägt dazu bei, indem sie in einem internationalen Projekt der Universität Hildesheim nach philosophischen Arbeiten in Sesotho sucht, einer der elf Amtssprachen Südafrikas. «Es ist meine Muttersprache», sagt sie, «auch wenn ich sie kaum fliessend spreche.» Um Quellen zu finden, befragt sie etwa Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die Sesotho beherrschen. Doch das Sammeln allein reicht ihr nicht: «Wir müssen das Potenzial afrikanischer Philosophien nutzen, um philosophische Probleme in Afrika und weltweit zu lösen.» Dafür sei es wichtig, ihre Begriffe und Konzepte herauszuarbeiten.

2019 kam Posholi in die Schweiz, um am Projekt «Reversing the Gaze» – den Blick umkehren – an der Universität Basel mitzuarbeiten. Es untersuchte, was passiert, wenn Konzepte aus dem globalen Süden auf politische Themen in Europa angewandt werden. Eine Fallstudie analysierte zum Beispiel die Migrationsdebatte in der Schweiz mit dem Begriff der Retribalisierung. Er stammt aus der Volkskunde und beschreibt, wie Menschen auf Veränderungen reagieren, indem sie sich stärker auf ihre Gruppenzugehörigkeit besinnen. «Bezogen auf südafrikanische Minenarbeiter, hatte Retribalisierung einen Beiklang von Rückständigkeit», erklärt Posholi, die für den theoretischen Teil mitverantwortlich war. «In der Schweiz erklärte das Konzept einfach, dass Menschen ihre kulturellen Traditionen verteidigen wollen.» Es fasziniert sie, wie neue Kontexte die Bedeutung von Konzepten verändern können.

Gewohntes hinterfragen

Posholi interessiert, wie «wandernde Konzepte» neue, nicht eurozentrische Perspektiven eröffnen können. Es gehe um «epistemische Gerechtigkeit», sagt sie, aber auch um Fortschritt: «Wissen wächst, wenn Denktraditionen nicht hierarchisch gegeneinander stehen, sondern sich verflechten.» Europäisch-westliche, afrikanische, lateinamerikanische, asiatische und indigene Denkströmungen könnten gemeinsam helfen, Probleme zu verstehen. Doch sie weiss: Eine Philosophie, die aus Vielfalt schöpft, wird nicht leicht zu erreichen sein.

Die Postkolonialismus-Debatte ist oft ideologisch aufgeladen. Zudem stellt eine globale Perspektive gewohnte Philosophie-Kriterien infrage – etwa die Schriftlichkeit oder die Vorstellung, dass Ideen immer von Individuen stammen. «Einige afrikanische Denktraditionen wurden mündlich innerhalb von Gemeinschaften weitergegeben», erklärt sie. Ein Beispiel ist Ubuntu – ein Konzept aus dem südlichen Afrika, wonach Menschlichkeit durch Mitmenschlichkeit entsteht. «Ethisch und moralphilosophisch ist es ergiebig», sagt Posholi. Doch auch sie selbst, in westlich-analytischer Tradition ausgebildet, müsse sich an neue Ausdrucksformen und Arten des Philosophierens gewöhnen.

Den Kanon erweitern

Ein Schlüssel zu einer globaleren Philosophie sind die Lehrpläne, sagt Posholi. Wie lässt sich der Kanon fruchtbar erweitern? In Hildesheim arbeitet sie mit Forschenden aus dem globalen Süden und Norden an dieser Frage. In ihren Lehrveranstaltungen erlebt sie die Studierenden als interkulturell offen. Seit 2022 ist Posholi Mitglied der Jungen Akademie der Schweiz. «Der Austausch mit Forschenden aus verschiedensten Disziplinen, die an einem ähnlichen Punkt ihrer Laufbahn stehen wie ich, ist inspirierend», findet sie. Sie beteiligte sich an Projekten zu Ungleichheiten und zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Aktivismus.

Ihr Ziel ist eine Professur in Südafrika. Vorerst bleibt sie mindestens ein Jahr in Europa, stellt ihre Forschung auf internationalen Konferenzen vor und hält über FaceTime und WhatsApp Kontakt zu Familie und Freundeskreis. In ihrer Freizeit liest sie Romane und geht spazieren: «Ich liebe es, wie man das in europäischen Städten wie Basel und Hildesheim tun kann», sagt sie. Die Ordnung fand sie grossartig – zumindest eine Zeit lang. Lachend fügt sie hinzu: «Irgendwann begann mir das Chaos ein bisschen zu fehlen.»

 

Tipp von Lerato Pohsoli, um sich in afrikanische Philosophien einzulesen:

https://blog.apaonline.org/2022/03/25/so-you-want-to-teach-some-africana-philosophy/

Lerato Phosholi, Jahrgang 1991, wuchs in Südafrika auf. Sie studierte Philosophie und Erziehungswissenschaften in Johannesburg, machte dort ihren Masterabschluss in Philosophie und promovierte in Erziehungswissenschaft am Zentrum für Bildungs- und Arbeitsforschung an der Universität Witwatersrand. 2019/2020 erhielt sie ein Stipendium der Oumou-Dilly-Stiftung und wechselte an die Universität Basel. Dort arbeitete sie an ihrer Dissertation und forschte als Postdoc am Europainstitut sowie am Zentrum für afrikanische Studien. Seit Sommer 2025 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt «Philosophizing in a Globalized World» am Center for Advanced Studies der Universität Hildesheim.

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