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Sie erforscht, was Erzählungen uns über das Sterben sagen

Anna Elsner, Literaturwissenschaftlerin und Mitglied der Jungen Akademie Schweiz, erkundet in Büchern, Filmen und Blogs, wie Menschen über das Sterben reden. Ihre Einsichten eröffnen neue Perspektiven, die auch für die Medizin relevant sind.

© Bildquelle: Jos Schmid

Autorin: Susanne Wenger

Ein kleines Universitätsbüro, ein grosses Thema: «Unser Leben ist endlich», sagt Anna Elsner. «Das wissen alle, doch der Gedanke an den eigenen Tod oder den eines geliebten Menschen bleibt schwer fassbar.» Diese Diskrepanz fasziniert sie seit ihrer Jugend. Nun untersucht Elsner, wie Menschen in Texten, Filmen und anderen Kulturformaten dem Unfassbaren begegnen. Seit Jahrhunderten beschäftigt sich Literatur mit dem Sterben, doch seit der Aids-Epidemie der 1980er-Jahre häufen sich die Zeugnisse, stellt Elsner fest. Heute boomt das einstige Tabuthema – auch wegen der veränderten Bedingungen des Sterbens, erklärt sie.

Bevor der medizinische Fortschritt das Leben verlängerte und mehr Interventionen ermöglichte, verlief das Sterben schneller, schicksalhaft und gottgegeben. «Heute bleibt mehr Zeit zum Nachdenken, oft auch mit einer schlimmen Diagnose», sagt Elsner. Das Sterben ist medikalisiert: Rund 80 Prozent der Menschen in der Schweiz sterben im Spital oder Pflegeheim. Autobiografisches Schreiben wird so zu einem Mittel, um sich mit dem medizinischen Kontext auseinanderzusetzen. Literatur und Kunst schaffen zudem «Raum für Emotionen, Kreativität und Unlogik» in einer säkularisierten Zeit, sagt Elsner. Das Erzählen hilft, persönliche Erfahrungen zu verarbeiten, und betrifft zugleich gesellschaftliche Fragen.

Darf Schmerz noch sein?

Im Gespräch wirkt die 42-Jährige präsent und nahbar, hat Beispiele und Bezüge blitzschnell parat. Auch wenn sie über ihre aktuellen Forschungsprojekte spricht, darunter eine Kulturgeschichte des Sterbens in Frankreich seit den 1970er-Jahren. «Ausgehend von der britischen Hospizbewegung, kam damals die Palliative Care auf», erklärt sie. Dieses Konzept zielt darauf ab, das körperliche und seelische Leiden Schwerkranker zu lindern – für viele eine menschenwürdige Erleichterung in einer um jeden Preis heilen wollenden Medizin. Doch der französische Schriftsteller und Literaturprofessor Philippe Forest, der in den 1990er-Jahren den Krebstod seiner Tochter schreibend verarbeitete, spricht von einer «Palliativideologie».

«Er fühlt sich unter Druck gesetzt, gut zu sterben und zu trauern», so Elsner. «Er fragt, ob Schmerz und Verzweiflung über einen solchen Verlust noch sein dürfen.» Sie will nicht mit Forest die Palliative Care kritisieren, sondern «verstehen, welche Erkenntnisse die Literatur über diese Erfahrungen liefert.» Das gilt auch für das zweite Thema, dem sie sich gerade widmet: der Sterbehilfe. Oder dem assistierten Suizid? «Schon die Begriffe widerspiegeln Haltungen», bemerkt sie. Auf den ersten Blick dominieren Schwarz-Weiss-Narrative: Entweder betont man die Selbstbestimmung oder warnt vor problematischen Folgen. Elsner sagt: «Geschichten formen die öffentliche Debatte zur Sterbehilfe.» Ihr Einfluss reiche bis in die Politik und Gesetzgebung. Wie genau, untersucht sie im Projekt «Assisted Lab» des Europäischen Forschungsrats mit einem interdisziplinären Team.

Ungehörte Zwischentöne

Seit zwei Jahren analysieren die Forschenden über 300 Kunst- und Medienwerke aus verschiedenen Ländern und Sprachregionen, darunter auch aus der Schweiz: Bücher, Filme, Dokumentationen, Podcasts, Blogs, Social-Media-Beiträge. «Die Geschichten sind sehr nuanciert», weiss Elsner. So auch bei der französischen Autorin Anne Bert, die an ALS erkrankt war und 2017 in Belgien Sterbehilfe wählte. Sie beschrieb, dass ihr die Entscheidung nicht leicht fiel, obwohl sie sie bewusst traf. Dieser Zwischenton blieb allerdings ungehört. In der Debatte über Sterbehilfe im französischen Parlament wurde Bert als heldenhafte Verfechterin der Autonomie zitiert.

Die Forschenden stellen ihre Ergebnisse laufend in einer öffentlich zugänglichen Online-Datenbank bereit. Mit ihrer literaturwissenschaftlichen Expertise enthüllt Anna Elsner etwas, das vor allem auch die medizinische Fachwelt anspricht. Ihr Schwerpunkt als Assoziierte Professorin an der Universität St. Gallen heisst «Medical Humanities». «Das beinhaltet, die Medizinkultur kritisch zu beleuchten», erklärt sie. Medizin umfasst nicht nur klinisches Wissen, sondern auch Sprache, Ethik und zwischenmenschliche Interaktionen. Elsner vernetzt sich forschend mit dem Gesundheitswesen, tauscht sich mit Fachkräften aus, organisiert Workshops für Medizinerinnen und Mediziner und arbeitet mit Palliativstationen zusammen.

Forschung als Anstoss zur Diskussion

Manchmal wird sie gefragt, ob es nicht bedrückend sei, sich als junge Forscherin so intensiv auf Tod und Sterben zu konzentrieren. Das Gegenteil sei der Fall, sagt sie: «Es schärft den Blick auf das Leben.» Sie möchte «eine Diskussion darüber anregen, wie wir sterben wollen.» Persönliche Erfahrungen haben ihr Interesse geprägt: der Unfalltod einer Cousine, das Sterben ihrer an Frühdemenz erkrankten Schwiegermutter – und die unterschiedlichen medizinischen Begleitungen dieser Todesfälle. Als Tochter einer Theologin und eines Mediziners bekam Elsner zudem früh mit, wie die Eltern über das Menschenbild der Medizin diskutierten.

Schon als Kind liebte sie das Lesen. Zunächst zog es sie zum Theater, sie schrieb selbst und gewann später Essay-Preise. Schliesslich entschied sie sich für ein Studium der Philosophie und Literatur. «Dass ich das Lesen zum Beruf machen konnte, empfinde ich als grosses Privileg», betont sie. In ihren Kursen regt sie Studierende zum präzisen Lesen an, «als Weg, sich kritisch mit zentralen Themen der Medizin, Literatur und Kunst auseinanderzusetzen». Gerne verbindet sie Theorie und Praxis, etwa bei Besuchen mit Studierenden in lokalen Institutionen wie dem Hospiz St. Gallen oder dem Kunsthaus Zürich.

Professorin und Mutter

Anna Elsner leistet vollen Einsatz auf dem akademischen Weg und ist zugleich Mutter eines 12-jährigen Sohnes und einer 9-jährigen Tochter. Für sie und ihren Mann, einen Volkswirtschaftler, bleibt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Dauerthema. Seit 2020 bringt sie dieses Anliegen auch als Mitglied der Jungen Akademie ein. Die Bemühungen der Universitäten, Doppelkarrieren zu fördern, begrüsst sie, weiss aber aus eigener Erfahrung: «Es ist komplex.» Ihr Mann wechselte kürzlich an die Universität Aix-Marseille und pendelt zwischen der französischen Hafenstadt und dem Wohnort der Familie in Zürich. 

«Das bedeutet mehr Care-Arbeit für mich», sagt Anna Elsner unumwunden. Dank eines unterstützenden Umfelds und einer Gastprofessur ihres Mannes in den kommenden Monaten in Genf funktioniert die Situation derzeit. Elsner macht sich dafür stark, «das Verständnis von akademischem Erfolg und Professionalität zu überdenken». Als der Schweizerische Nationalfonds sie 2022 mit dem Marie-Heim-Vögtlin-Preis als beste Nachwuchsforscherin auszeichnete, liess sie sich in einem Videoporträt mit ihren Kindern filmen. In Interviews erwähnt sie diese konsequent. «Kinder sollten ein sichtbarer Teil einer akademischen Laufbahn werden», findet sie.

Anna Elsner, Jahrgang 1982, wuchs in Zürich auf. Sie studierte Philosophie und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaften in Oxford, erwarb in Cambridge einen Master-Abschluss in Europäischer Literatur und Kultur und promovierte dort in Französischer Literatur und Philosophie. In ihrer Dissertation verknüpfte sie Trauer und Kreativität anhand von Marcel Prousts Roman «À la recherche du temps perdu». Nach Forschungsaufenthalten unter anderem in Paris, London und Texas wurde sie 2020 Assistenzprofessorin für französische Literatur und Kultur an der Universität St. Gallen. Diese beförderte sie 2023 zur Assoziierten Professorin für französische Kulturwissenschaft und Medical Humanities. Elsner hat zudem die Co-Leitung der «School of Medicine» inne, eines Instituts der Universität St. Gallen.

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